APA Science Profile Philosophen kritisieren modernen Zeitdruck Viele Menschen beklagen die Hektik des Alltags. Nicht einmal im Advent nehmen sie sich Zeit zur Besinnung. Daß sie so wenig Zeit haben, hat viel mit dem Pietismus zu tun, sagt der Münchner Wirtschaftspädagoge Prof. Karlheinz August Geißler. Diese vor allem in Württemberg beheimatete Form des Protestantismus meinte ebenso wie der in der Schweiz vorherrschende Calvinismus, daß Müßiggang aller Laster Anfang sei. "Man darf überall nie müßiggehen, sondern soll beständig tätig sein", mahnten im 16. Jahrhundert die Reformatoren Johann Calvin und Ulrich Zwingli. Daß ihre Vorhaltungen auf fruchtbaren Boden fielen, zeige sich auch in der heute noch marktbeherrschenden Schweizer Uhrenindustrie, resümiert Geißler in einem Beitrag für die Philosophiezeitschrift "der blaue reiter" (Nr. 5/1997). Der Pietismus ging davon aus, daß wirtschaftlicher Erfolg göttliche Gnade und Erwähltheit zum Ausdruck bringt. Der Aufstieg des arbeitenden Bürgertums und die schließliche Verdrängung des müßiggehenden Adels erschien in diesem Sinne gottgewollt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts standen mit der Entwicklung neuartiger Verkehrs- und Kommunikationsmöglichkeiten die Mittel für eine noch effektivere Zeitnutzung, ja für die Zeitbeschleunigung bereit: "Die Lokomotive hat der Zeit eine neue Schnelligkeit gegeben", erläutert Geißler. Auto und Flugzeug beschleunigten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Zeit noch einmal. Allerdings war die Zeit im 19. Jahrhundert oft noch von Stadt zu Stadt unterschiedlich. Am Ulmer Hauptbahnhof konnte man noch bis in die 20er Jahre ein württembergisches und ein bayerisches Ziffernblatt sehen. Erst seit 1893 tickten der bayerische und der württembergische Chronometer im Gleichklang, nachdem im ganzen Deutschen Reich die Standardzeit eingeführt worden war. Der Umsatz an Taschenuhren war zu diesem Zeitpunkt schon sprunghaft angestiegen. "Als dann Anfang des 20. Jahrhunderts die Armbanduhr eingeführt wurde, hatte fast jeder seinen Zeitmesser - aber nicht mehr seine Zeit", stellt Geißler fest. Johann Wolfgang von Goethe, dessen Zeiterfahrung sich noch auf die Geschwindigkeit von Postkutschen beschränkte, hatte bereits prophezeit: "Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt. Eisenbahnen, Dampfschiffe und alle möglichen Facilitäten der Communication sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren." Einen vollen Terminkalender und keine Zeit zu haben, galt bis vor kurzem noch als Statussymbol von Managern. Inzwischen gibt es Gegenbewegungen. "Wir brauchen mehr Zeit - in Ruhe", meint der im Klagenfurt lehrende Philosophieprofessor Peter Heintel, der auch Industrieunternehmen berät. Er hat deshalb die Organisation "Tempus - Verein zur Verzögerung der Zeit" mitgegründet, die Menschen ermutigt, sich Zeit zu nehmen. Heintel hat den Begriff "Slobby" kreiert, die "Slower but better working people" (langsamer, aber besser arbeitende Leute). "Der Qualitätsdruck dehnt eher die Zeit, wenn ich Wert darauf lege, in bestimmten Zusammenhängen zu guten Entscheidungen zu kommen", erläuterte der Wissenschafter in einem Interview mit dem "blauen reiter". Pausenloser Aktivismus hat für den Philosophen auch etwas mit der Verdrängung der natürlichen Zeitgrenze jedes Menschen, des Todes, zu tun: "Als ich in Wolfsburg bei der 'Geburt' des neuen VW Golf dabei war, wurde mir klar, daß unsere Neuzeit eine ganz spezifische und sehr männliche Form der Überwindung des Todes durch ewige Produktion oder durch ewiges Wachstum entwickelt hat." Copyright © [APAnet] 1997 webmaster@apa.co.at